Die Meldung
von
Stefan Hensch
Dennis hatte lange überlegt, ob er die Polizei wirklich anrufen sollte. Letztlich hatte er es getan, weil er sich irgendwie verantwortlich gefühlt hatte. Die nackte Frauenleiche ließ sich nicht wegdiskutieren. Sie lag auf dem Rücken und starrte aus aufgerissenen Augen zum Himmel.
Es dauerte eine Stunde, bis der Polizeiwagen gekommen war. Jetzt saß der Polizist im Wohnzimmer auf dem Sofa, die Schirmmütze lag auf dem Wohnzimmertisch vor ihm. Er hatte sich nicht vorgestellt und verhielt sich auch ansonsten sehr distanziert. Dennis glaubte, dass sie sich unverzüglich um die Leiche kümmern würden, dem war jedoch nicht so. Vielleicht wollte der Beamte erst ein paar grundsätzliche Informationen einholen?
„Sie haben die Meldung gemacht, Herr Bürger?“
Dennis nickte und spürte den Blick seines Gegenübers auf sich ruhen, kalt und berechnend.
„Also gut. Fangen Sie bitte ganz von vorne an. Was genau ist passiert?“
„Es begann heute Mittag“, sagte er.
„Haben Sie keine Arbeit, oder weshalb waren Sie zu Hause?“
„Homeoffice. Ich bin Ingenieur bei Neumann und Rath.“
Uninteressiert notierte sich der Beamte etwas. „Weiter.“
„Gegen 12:00 Uhr betraten fünf Männer und eine Frau den Rasen hinter dem Haus. Sie hatten jede Menge Kram dabei.“
„Kram?“
„Handtücher, Bier, eine Boombox und eine Kamera.“
Schweigend schrieb der Polizist weiter und sah dann Dennis an. „Ist Ihnen etwas aufgefallen?“
„Die Frau wirkte unsicher, bewegte sich nur langsam. Offensichtlich ging es den Männern zu langsam, deshalb wurde sie von den Männern geschubst.“
Der Beamte nickte. „Hat sie die Lautstärke gestört?“
Dennis wusste nicht recht darauf zu antworten. „Etwas“, sagte er. „Ich wollte mich auf meine Arbeit konzentrieren.“
„Ah ja“, machte der Polizist und notierte wieder etwas. „Was passierte dann?“
„Ich habe Kopfhörer aufgesetzt, um meine Aufgaben erledigen zu können. Als ich mir etwas zu trinken holen wollte, habe ich nochmal raus gesehen. Die Männer nahmen der Frau die Kleidung weg und sie wehrte sich dagegen.“
Der Polizist runzelte die Stirn. „Sind sie sich ganz sicher? Es könnte doch auch ein harmloses Rollenspiel gewesen sein?“
Dennis schluckte. „Die Frau wurde von mindestens einem Mann geschlagen.“
„Das muss ja nichts zu bedeuten haben, vielleicht war das Teil des Spiels.“
„Für mich sah es nichts so aus.“
Der Uniformierte machte mit seiner Linken eine Geste, die vermutlich einen Schlussstrich darstellen sollte. „Das ist pure Spekulation, sonst nichts. Sie sollten bei den Tatsachen bleiben.“
Ihm wurde warm und er fuhr sich mit der Hand durch sein Haar. Das Herz pochte.
„Erzählen Sie weiter, Herr Bürger.“
„Nachdem die Frau nackt war, zogen sich auch die Typen aus und tranken Bier. Einer von ihnen ging zu der Frau und zwang sie, sich auf ein Handtuch zu legen.“
„Können Sie beschwören, dass die Frau wirklich unter Zwang gehandelt hat? Hören Sie mit den Unterstellungen auf, Herr Bürger. Sie dürfen nicht immer ihre eigenen Moralvorstellungen auf andere Menschen übertragen. Sie sind nicht das Maß aller Dinge.“
Dies war der Punkt, an dem Dennis die Richtung des Gesprächs nicht mehr gefiel. Oder war er wirklich zu voreingenommen? Ohne dass er es wollte, wanderten seine Gedanken zur Leiche der Frau, die auf dem Rasen lag.
„Was haben Sie als nächstes gesehen?“
Er atmete scharf ein und sortierte seine Gedanken. „Nun ja, der Mann hatte Sex mit der Frau.“
„Hat Ihnen das gefallen?“, fragte der Polizist lauernd.
„Nein. Es sah nicht so aus, als würde es einvernehmlich geschehen.“
Der Beamte nickte. „Es sah nicht so aus, Sie sagen es. Was haben währenddessen die anderen Männer getan?“
„Einer filmte den Akt, während die anderen weiter Bier tranken. Einer vollzog bei einem anderen Oralsex, die anderen beiden spielten an ihren Schwänzen herum. Nachdem der Erste fertig war, machten die anderen mit der Frau weiter. Einer nach dem anderen.“
Der Kugelschreiber kratzte weitere Worte auf den Notizblock, dann hob sich der Blick des Polizisten. „Haben Sie Probleme mit alternativen Beziehungsmodellen und sexuellen Orientierungen? Die monogame rein heterosexuelle Beziehung ist nur eine Form von vielen Modellen.“
„Mir ist egal, wer wie und mit wem lebt. Zumindest, wenn alles einvernehmlich geschieht und auch nicht in der Öffentlichkeit.“
„Sie sind ein Gefangener Ihrer Scheuklappen, Herr Bürger. Woher wollen Sie denn wissen, dass es nicht einvernehmlich war? Sind Sie vielleicht auch Psychologe oder Verhaltensforscher? Außerdem fand dieses Treffen doch nicht in der Öffentlichkeit statt, sondern auf einem Privatgrundstück.“
„Und ich habe es gesehen.“
Für einen Moment trat Stille ein und nur das Ticken der Wohnzimmeruhr war zu hören.
„Hat es Ihnen insgeheim gefallen, was sie beobachtet haben? Wären Sie gerne aktiver Teilnehmer gewesen?“
Dennis spürte, wie seine Wangen erröteten. „Da draußen liegt die Leiche einer jungen Frau, die Opfer einer mehrfachen Vergewaltigung wurde und Sie mutmaßen in aller Seelenruhe über mich?“
Klickend betätigte der Polizist seinen Kugelschreiber. „Hören Sie endlich mit diesen unhaltbaren Spekulationen auf. Wissen Sie eigentlich, dass falsche Zeugenaussagen strafbar sind? Erzählen Sie weiter, aber bleiben Sie bei dem, was Sie gesehen haben.“
Es war ein Fehler gewesen. Dennis hätte niemals die Polizei verständigen dürfen. Er hatte schon so Einiges gehört, wie Polizisten heutzutage arbeiteten. Dieser Ordnungshüter verhielt sich völlig absurd. „Als die Typen mit der Frau fertig waren, hatte plötzlich einer von ihnen ein Messer in der Hand. Er hielt ihren Kopf an den Haaren fest und schnitt ihr die Kehle durch, während mindestens einer alles filmte. Sie johlten und applaudierten dazu.“
Die Augen des Uniformierten verengten sich zu Schlitzen. „Haben Sie etwas davon, wenn sie anderen Bürgern einen Mord andichten? Sie wissen doch gar nicht, was wirklich passiert ist. Vom Fenster aus glauben Sie etwas gesehen zu haben. Ist das auch wirklich passiert, oder interpretieren Sie es vielleicht sogar absichtlich falsch?“ Er starrte auf den Fußboden. „Kannten Sie jemanden der Beteiligten und haben sie mit dieser Person noch eine Rechnung offen?“
Dennis´ Gesicht verhärtete sich und er presste seine Kiefer zusammen. Kein Wort verließ seine Lippen, das hätte alles nur noch schlimmer machen können. Anstelle dessen beobachtete er, wie der Uniformierte ein Tablet hervorzog und es einschaltete.
„Sie sind nicht verheiratet“, stellte der Polizist fest. Offensichtlich hatte er Dennis´ Akte vor Augen. „Leben Sie in einer Beziehung?“
Dennis schüttelte den Kopf.
„Wie lange schon?“
„Zwei Jahre.“
Der Beamte sah ihn unvermittelt an. „Ich denke, Sie sind sexuell frustriert und das beeinflusst ihre Wahrnehmung.“
„Jetzt hören Sie mir mal zu“, explodierte Dennis. „Ich habe beobachtet, wie eine Männergruppe eine junge Frau vergewaltigt und dann ermordet hat. Das alles haben sie vor laufender Kamera getan. Anstelle nach den Tätern zu fahnden, unterstellen Sie mir sexuelle Frustration. Was stimmt eigentlich nicht mit Ihnen?“
Der Polizist stand abrupt auf. „Der Einzige mit dem hier etwas nicht stimmt, sind Sie selbst. Ihre Phantasie ist völlig mit ihnen durchgegangen und sie glauben etwas gesehen zu haben, was aber nicht passiert ist. Es war ein bedauerlicher Unfall, Herr Bürger. Ich bin mir vollkommen sicher. Stellen Sie sich nur einen Moment vor, wie unsere Kriminalitätsrate aussähe, wenn wir jeden Unfall als Verbrechen aufnehmen würden.“ Die Augen des Beamten irrlichterten. „Da es sich um eine polyamouröse Beziehung zwischen fünf Männern und einer Frau handelt, scheint sie irgendetwas daran zu triggern. Vermutlich sind Sie latent homophob.“
Dennis erhob sich reflexartig. „Sie gehen jetzt besser.“
Ganz langsam setzte der Polizist seine Uniformmütze auf. „Und Sie werden mich begleiten, Herr Bürger.“
„Was soll das heißen?“
„Laut des neu eingeführten Gesetzes zur Verbrechensprophylaxe werde ich sie jetzt in eine psychiatrische Einrichtung bringen. Dort werden Sie sich einer intensiven Therapie unterziehen, bevor Sie selbst eines Tages zum Täter werden. Packen Sie das Nötigste zusammen, wir fahren gleich los.“
Wie ein Roboter ging Dennis ins Schlafzimmer und stopfte wahllos Kleidung in eine Reisetasche. Als er am Fenster vorbeikam, sah er hinaus. Die nackte Leiche lag immer noch auf dem Gras. Gerade landete eine Krähe und hüpfte interessiert in Richtung des Gesichts der Toten.
ENDE
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