
Beim Erscheinen im Jahr 2008 löste dieses beinahe 1400 Seiten starke Buch einen Aufschrei aus. Kern des Protests war die Empörung darüber, dass der Zweite Weltkrieg und der Holocaust aus der Perspektive eines Täters dargestellt wurden. Und dann war das auch noch ein Mensch aus Fleisch und Blut, kein Dämon: nachvollziehbar und so lebensecht, dass sich der Leser mit ihm identifizieren kann. Maximilian Aue, so der Name des Protagonisten, scheint einer von uns zu sein: aus der Mitte der damaligen Gesellschaft.
Skandale erzeugen Aufmerksamkeit, was den Buchverkauf fördert, also ist das wohl „gut“. Leider nein. Der Skandal tobte, breitete sich aus und verebbte. Damit geriet dieses Buch praktisch ins Vergessen, was ich sehr bedauere.
Man muss es sagen, wie es ist: Die Wohlgesinnten ist ein Meisterwerk – ein Jahrhundertbuch! Vermutlich ist es der perfekteste Roman, den ich je gelesen habe und damit auch in meinem Kanon.
Fangen wir mit dem Profansten an: Jonathan Littell hat einen Rechercheaufwand betrieben, der diesen Namen verdient. Egal, ob es um Details der damaligen Umgangssprache, den Kriegsverlauf, handelnde Personen oder anderes geht: Littell hat alles wasserdicht recherchiert und exakt im Roman verarbeitet. Das alleine ist für mich beispiellos und respektabel.
Die fast 1400 Seiten des Romans sind niemals langweilig, obwohl sämtliche Details penibel recherchiert wurden. Nie hat man das Gefühl, ein belehrendes Lehrbuch in der Hand zu halten. Stets ist die Lektüre fesselnd und man lernt trotzdem extrem viel. Natürlich ist der Roman keine Gute-Laune-Lektüre, dafür ist das Thema einfach zu ernst. Dennoch bleibt der Roman spannend, was für viele Leser möglicherweise auch problematisch sein könnte: Wir sind es schließlich hierzulande gewohnt, dass Berichte aus dieser Zeit stets moralinsauer, spießig und mit erhobenem Zeigefinger daherkommen müssen.
Die Wohlgesinnten konnte vermutlich von keinem Deutschen geschrieben werden, da wir in einer Formneurose gefangen sind, um nur ja nicht respektlos zu erscheinen. Nun, das ist Littell zu keinem Zeitpunkt. Vielleicht, weil er sich permanent auf das Wichtigste konzentriert: als Autor gute Literatur zu erschaffen.
Grundsätzlich handelt es sich um einen Tatsachenroman. Das bedeutet, es handelt sich um einen Roman, der in die realen Geschehnisse dieser Zeit eingebettet ist. Dr. Maximilian Aue hat es niemals gegeben, die Ereignisse, an denen er teilnimmt, sehr wohl. Teilweise arbeitet Littell mit Techniken des postmodernen Romans. Daraus entsteht eine Ästhetik, die ich niemals zuvor erlebt habe. Auch wenn Littell mittlerweile als Autor nicht mehr sehr präsent ist, handelt es sich um einen der großartigsten Autoren unserer Zeit.
Abschließend sind noch Verhandlungen über Politik mehr als lesenswert. Auch hier bewies der Autor Mut und liefert etwas, das Die Wohlgesinnten für sich allein bereits zu etwas Einzigartigem macht.
Die Wohlgesinnten lässt sich mit einem Wort beschreiben: Perfekt. Mehr braucht es nicht, um diesem monumentalen Werk gerecht zu werden. Dennoch kann man natürlich ausholen: Es ist ein extrem transformatives Werk, das den offenen Leser nicht unverändert zurücklässt. Das ist für mich das Kriterium für außergewöhnliche Literatur!