Ich bedaure es immer, wenn ich eine Verfilmung vor der Vorlage sehe. Viel zu gerne mache ich mir selbst ein Bild. Auf diese Weise kann ich mich dann auch viel schöner über die Verfilmung aufregen…
Im Fall von Stand by Me liegt mein letzter Kontakt mit dem Film allerdings schon mehr als zehn Jahre zurück, wahrscheinlich sogar eher zwanzig. Natürlich erinnere ich mich noch an die Grundzüge der Handlung, aber es sind viele Lücken entstanden. Die Zeit, die Novelle endlich zu lesen, war gekommen.
Nein, Die Leiche ist keine Horrorstory. Zumindest gibt es weder Monster noch etwas, das sonst zum klassischen Horror gehört. Stephen King erzählt hier eine wunderbar stimmige Coming-of-Age-Geschichte über vier Jugendliche. Es geht um den Übergang von der Kindheit ins Jugendalter. Auch das kann gruselig sein und bei Stephen King ist es das natürlich.
Gordy, Vern, Chris und Teddy wachsen in den USA der frühen Sechziger auf. Vern belauscht ein Gespräch seines Bruders mit einem Freund, in dem es um einen verschwundenen Jungen geht. Bei einem nächtlichen Ausflug hatte der Bruder zufällig die Leiche entdeckt. Da die beiden mit einem gestohlenen Auto unterwegs waren, konnten sie sich nicht an die Polizei wenden.
Mit dem Wissen über den Fundort eilt Vern zu seinen Freunden. Die sind sofort begeistert, denn wenn sie den toten Jungen als Erste offiziell entdecken, hoffen sie auf Aufmerksamkeit in den Medien. Also erfinden sie für ihre Eltern eine harmlose Geschichte (Zelten im Garten eines Freundes) und machen sich auf den Weg.
Soweit die Rahmenhandlung, die bei Novelle und Film praktisch identisch ist. Regisseur Rob Reiner liefert eine gelungene Verfilmung ab, die als zeitlos gelten kann und vermutlich auch noch in zwanzig Jahren mit Vergnügen geschaut wird.
Die Unterschiede zwischen Film und Vorlage wirken zunächst nebensächlich, doch besonders gegen Ende nimmt sich der Film einige Freiheiten. Diese wirken unnötig, glätten den Stoff aber merklich. Das wäre nicht nötig gewesen.
In der Summe macht der Film die Geschichte deutlich zugänglicher für ein jüngeres Publikum, was aus wirtschaftlicher Sicht sicher sinnvoll war – dem Geist der Vorlage widerspricht das allerdings. Die Leiche ist kein Kinderbuch, sondern richtet sich klar an ein erwachsenes Publikum. Dem Film schadet die weichere Erzählweise allerdings nicht. Und wer über das Gesehene hinausdenken möchte, wird vermutlich ohnehin zum Buch greifen.
Interessanterweise gelingt es dem Film über weite Strecken, mit der größten Stärke der Novelle mitzuhalten: nämlich dann, wenn die Kinder auf existenzielle Fragen stoßen und mit ihnen umgehen müssen, während der Erzähler mit einer gewissen Wehmut zurückblickt. Das erinnert fast schon an das, was später als unzuverlässiges Erzählen beschrieben wird.
Spoiler-Warnung
In den folgenden Zeilen spreche ich über den größten Unterschied zwischen beiden Medien, was eine Offenlegung des Endes unvermeidlich macht. Wer die Novelle und den Film noch nicht kennt: bitte jetzt aufhören zu lesen und erst nach dem Genuss von Buch und/oder Film zurückkommen!
Am Ende kommt es zu der Situation, in der Gordy, Teddy, Vern und Chris eben nicht als gefeierte Helden in den Nachrichten auftauchen. Der Film nimmt das einfach hin, während der Erzähler der Novelle genau darüber nachdenkt. Aus seiner Sicht hätte dieses Erlebnis das Leben der vier Jungen nachhaltig positiv verändern können. Ich teile diese Sicht. In der Psychologie nennt man das den Pygmalion-Effekt. Grob gesagt geht es dabei um die Wirkung positiver Erwartungen. Gerade in dieser Phase ihres Lebens (Wechsel von Grundschule zur Oberschule) hätte ein gewisses Maß an öffentlicher Anerkennung ihnen möglicherweise den Rücken gestärkt.
Wie schon unschwer herauszulesen war, kann ich sowohl der Novelle als auch dem Film einiges abgewinnen. Wenn möglich, sollte man jedoch zuerst die Novelle lesen und dann den Film sehen. Schon allein die Besetzung macht den Film sehenswert: Will Wheaton, River Phoenix, Corey Feldman und Jerry O’Connell zusammen in jungen Jahren. Und hatte ich schon erwähnt, dass auch Kiefer Sutherland mitspielt?
Nein, der Film ist ein echtes Juwel und gehört eindeutig zur Sorte „wird heute nicht mehr gemacht“. Dasselbe gilt für die Novelle: Stephen King war selten besser – jedenfalls nicht in den letzten zehn Jahren, und schon gar nicht auf so konzentriertem Raum wie hier auf nur 256 Seiten.