Verantwortungsloser Hedonismus: Kranke Kinder in die Schule schicken

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Die Pandemie ist gar nicht lange her. Es gab dort jede Menge Absurdes, Dummes und allzu Menschliches. Aber natürlich war nicht alles schlecht: wie z. B. in Schlangen etwas Abstand zu halten, in der Grippezeit über den Besuch von Massenveranstaltungen nachzudenken oder generell seine Lebensführung zu verbessern.

Was ist davon übrig geblieben? Nun, eigentlich nichts – bis auf das Überflüssige: sich bei kleinen Infekten wie ein Hypochonder auf den jeweiligen Erreger zu testen, Masken beim Einkaufen zu tragen und Infektionssprechstunden beim Hausarzt einzuführen. Soweit, so schlecht. Wir tun ein Läppchen drum und weiter geht’s mit Volldampf in die Partygesellschaft.

Apropos Hedonismus: Kinder stören da so richtig, aber erfreulicherweise gibt es ja Kindergärten und Schulen mit zusätzlicher Nachmittagsbetreuung. Da macht das Leben doch wieder so richtig Freude, wenn die kleinen Quälgeister von 8:00 Uhr bis 17:30 Uhr aus dem Haus sind. Natürlich wollen Kevin und Sofia das – wegen voll toller Betreuung, Spaß und Gemeinschaftsgefühl. Kurz: Das Vergewaltigungsopfer hat ganz sicher auch Spaß dabei, und dann ist das doch okay, nicht? Natürlich nicht!

Nun ist Arbeiten aber Menschenrecht. Deshalb sind Menschen im Mittelalter, indigene Völker und Rentner ja auch so unglücklich – weil sie keine Arbeit (mehr) haben. Gemeint ist natürlich bezahlte Erwerbsarbeit. Seine Lebenszeit gegen einen Stundenlohn einzutauschen, ist der Sinn des Lebens. Dabei spielt es auch fast keine Rolle, wie hoch dieser Stundenlohn ist. Im Zweifel ist es natürlich auch geiler zu arbeiten, selbst wenn die Betreuungskosten den Großteil des Lohnes von einem der beteiligten Hedonisten verschlingen. Hauptsache weg von zu Hause und nicht fürs Familienleben zur Verfügung stehen. Der Peter aus der Poststelle nimmt einen vielleicht besser ran als der Langweiler im Ehebett. Kollegin Kerstin hat auch nichts gegen Besuche durch die Hintertür, im Gegensatz zur frigiden Trulla im Eigenheim. Auf jeden Fall gut, wenn die Bälger bis abends nicht da sind.

Neben (seltenen) Extremwetterlagen gibt es nur einen Endgegner, der als Hindernis vor der Fremdbetreuung steht: wenn die kleinen Biester krank sind! Und hier kann man getreu Platon vorgehen, um bloß nicht für kranke Kinder verantwortlich zu sein. Einfach, indem man diese Frage stellt: „Was bedeutet denn krank?“

Hierzu eine Argumentationshilfe:

  • „Ach, Mathilda hat nur eine Schnupfennase…“
  • „Hartmut hat nur einen Husten, aber er geht doch so gerne zur Schule…“
  • „Marie geht es super, sie hat nur so ein komisches Geräusch beim Atmen…“
  • „Nein, Aaron hat keinen Ausschlag. Das ist eine Allergie, ganz sicher.“

Nun könnte es mir völlig schnuppe sein, was andere Eltern mit ihren Kindern treiben. Leider sind diese Kinder Teil unserer gemeinsamen Zukunft. Weiterhin stecken diese Kinder dann permanent andere Kinder an, sodass „krank sein“ ein fast viermonatiger Dauerzustand für die Kinder ist. Das ist nicht nur schade für diese, sondern völlig idiotisch.

Ich will es ganz drastisch sagen: Unsere heutige Gesellschaft ist massiv kinderfeindlich. Jeder Beteiligte tut alles, um möglichst in den Genuss der unverbindlichen Partygesellschaft zu kommen. Kinder gehören generell nicht in Fremdbetreuung, besonders nicht in ein Land mit solchen Sozialleistungen wie Deutschland. Seien wir ehrlich – wie ich schon gesagt habe, kostet Fremdbetreuung Geld. Oftmals mehr als die Erlöse aus dem Minijob, der durch das Abschieben der Kinder ermöglicht wird. Anstelle dessen hat kaum jemand Bock auf die Verantwortung, die eine Familie mit sich bringt. Das ist auch verständlich, denn „We-Time“ ist keine „Me-Time“. Das verstehen aber die Berufsjugendlichen auch nicht mit der Vollendung des 50. Lebensjahres.

Unsere Gesellschaft ist irgendwann stehengeblieben. Es fehlt einfach eine zeitgemäße Perspektive für das Leben mit 40 und 50. Wir haben einfach keinen Plan, außer uns dahin zu orientieren, als es uns noch gut ging und wir noch ein Leben hatten: bevor wir Kinder bekommen haben. Deshalb ist „nach den Kindern“ praktisch nur wieder eine Rückkehr in den Modus Prä-Kind. Wer sich davon überzeugen möchte, frage die Großeltern-Generation nach ihrem Alltag: Soap Operas, Essen gehen, Urlaub und Sport.

Für mich ist auch das alles mit der Krise des westlichen Lebensstils verbunden. Materielle Überversorgung führt zu verarmten Emotionen. Damit ist Schluss, wenn die Versorgung schlechter wird. Dann trifft materieller Mangel auf ein abgeflachtes Seelenleben. Prost Mahlzeit!

Abschließend ein kleines Gedankenspiel: Erinnerst du dich noch, wie schön es war, von der Schule nach Hause zu kommen? Also FRÜH aus der Schule zu kommen? Vielleicht hat deine Mutter ein Mittagessen vorbereitet, oder du bist zur Oma gegangen. Danach kamen die Hausaufgaben dran, und dann hast du lange Nachmittage mit den Nachbarskindern verbracht. Erinnerst du dich noch an diese Zeit? Gut, warum verbaust du das DEINEM Kind?

Habe ich dich getriggert? Möchtest du etwas hinzufügen? Bitteschön, leg los: info@stefanhensch.de

Mein neuer Freund

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Seit Jahren erzählen mir Leute von einem neuen Bekannten, der sie teilweise sehr ärgert. Ich habe nun auch die zweifelhafte Freude, ihn zu kennen. Nachnamen hat er keinen, er ist einfach als Tinnitus bekannt.

Vielleicht werde ich tatsächlich alt. Das erste Mal hatte ich mit T. während einer Infektion zu tun. Bislang waren meine Ohren meist verschont geblieben, doch dieses Mal war das linke Ohr richtig „zu“. Die Erkältung heilte aus, und eigentlich war alles gut. Irgendwann hörte ich dann aber dieses tiefe Brummen, so als liefe vor dem Haus ein Dieselmotor.

Dann verschwand es eine ganze Zeit, und ich habe T. nicht vermisst. Irgendwann kam er wieder, meist wenn ich angeschlagen oder müde war. Zu Anfang hatte ich den Eindruck, dass es irgendwie mit meinem Nacken zu tun haben könnte. Je nach Beugung und Drehung schien das Geräusch anders zu sein. Mir war es egal, und ich ließ es brummen, bis es irgendwann ganz verschwand.

Bis letzte Woche blieb Freund T. weg – keine Postkarten, kein Anruf. Anfang der Woche meldete er sich jedoch fulminant zurück. Diesmal war er relativ deutlich zu hören, und vor allem nicht zu überhören: Er blieb plötzlich dauerhaft. Ich habe ein neues Feature in meinem Leben freigeschaltet – leider kein wirklich positives, aber was bekommt man auch Gutes, ohne dafür zu bezahlen?

In der Stille wird Freund Tinnitus besonders laut – fast so, als würde er die Abwesenheit anderer Geräusche als Bühne sehen. Leider muss ich dir sagen, lieber Tinnitus: Deine Auftritte sind eintönig. Viel zu statisch und einfallslos bist du mit deinem dumpfen Gebrumme.

Gibt es etwas Positives am Tinnitus? Eingangs vermutete ich ja schon, dass es auch ein Symptom fürs Älterwerden sein kann. Gut, ich bin 46, noch keine 64 – aber taufrisch ist anders. Kann man den Tinnitus nicht in eine Reihe mit Arthrose, Krampfadern und Haarausfall setzen? Doch, das kann man. Am häufigsten tritt der Tinnitus um das 50. Lebensjahr auf. Auch wenn 50 das neue 30 ist, ist man eben keine 20 mehr. Dieser Wahrheit sollte man ins Auge blicken. Und dem kann man sehr wohl etwas Positives abgewinnen: Ich durfte bereits mehr Leben genießen als viele andere Menschen. Positivistisch angehaucht könnte man sagen: Danke, ich darf anfangen, alt zu werden.

Und sonst? Gibt es da noch etwas Gutes? Nun, es hört sich vielleicht ketzerisch an, aber ich denke schon. Mein Tinnitus ist vielleicht weniger schlimm ausgeprägt als bei anderen – das möchte ich nicht bezweifeln. Aber ich glaube, dass mir Freund Tinnitus hilft. Vielleicht gehe ich manchmal zu sehr in den Stress hinein und bekomme das dann durch Brummen und Sausen widergespiegelt. Dann weiß ich: Es ist Zeit für eine Pause. Du solltest mehr auf dich achten. Das wusste ich zwar auch ohne Tinnitus, aber hat es mich interessiert? Gegenfrage: Hätte ich Freund Tinnitus überhaupt kennengelernt?

Tinnitus und meine Beziehung ist noch recht jung. Vielleicht wird aus ihm irgendwann ein ruhigerer Begleiter – oder ich lerne einfach, besser mit ihm zu leben. Sollte sich etwas ändern, halte ich euch auf dem Laufenden. Und was ist mit euch? Wie geht ihr mit unserem gemeinsamen Freund um? Ich freue mich auf eure Geschichten.

info@stefanhensch.de

Die wahre Bedeutung von Michael Endes „Die unendliche Geschichte“

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Als Wolfgang Petersens Film Die unendliche Geschichte 1984 in die Kinos kam, war ich sechs Jahre alt. Den Film sah ich etwa ein Jahr später. Ich bewunderte den Glücksdrachen Fuchur und wollte selbst auf ihm reiten, litt mit beim Tod von Artax im Sumpf der Hoffnungslosigkeit und jubelte, als Phantásien von Bastian Balthasar Bux gerettet wurde. Damals ahnte ich jedoch nicht, dass diese Geschichte für mich noch lange nicht zu Ende war…

Zur Kommunion bekam ich Momo von Michael Ende geschenkt, und ich wusste, dass auch Jim Knopf aus seiner Feder stammte. Das war es dann aber auch – mehr habe ich mich mit Michael Ende damals nicht beschäftigt. Ich las das, was man als Junge eben so las: vor allem Science-Fiction, Fantasy und Horror. Von Stephen King über Wolfgang Hohlbein bis H.P. Lovecraft. Irgendwann habe ich dann selbst begonnen zu schreiben.

Als Autor bleibt man zwangsläufig auch immer Leser. Anders geht es einfach nicht – das Lesen ist Teil der Autoren-DNA. Man sucht stets nach neuem Lesestoff, sei es durch Gespräche mit anderen Leserinnen und Lesern, durch Literatursendungen und Podcasts oder durch das Studium des Feuilletons.

Nachdem ich innerhalb kurzer Zeit gleich dreimal auf Die unendliche Geschichte gestoßen war, beschloss ich, das Buch zu lesen. Es war fast 40 Jahre her, dass ich den Film gesehen hatte, und so konnte das doch keine allzu langweilige Reise werden, oder? Ich lieh mir das Buch in der Stadtbibliothek aus und begann zu lesen.

Was soll ich sagen? Die unendliche Geschichte hat mich sofort gepackt und in ihren Bann gezogen. Schon auf der ersten Seite merkt man: Hier hat man es mit echter Literatur zu tun – nicht nur mit einem Kinder- oder Jugendbuch. Stattdessen findet sich ein Roman, der sich gleichermaßen an Kinder und Erwachsene richtet.

In meinen Augen ist Die unendliche Geschichte ein moderner Klassiker und gehört zu den bedeutendsten Büchern, die in den letzten 50 Jahren in deutscher Sprache veröffentlicht wurden. Ich sehe förmlich die Fragezeichen aufpoppen: „Aber es ist doch nur ein Fantasyroman?“

Keineswegs! Michael Endes Roman hat zwar ein fantastisches Sujet, erfüllt aber auch andere literarische Kriterien:

  1. Literarizität: Darunter verstehe ich die Qualität des Textes an sich. Einerseits bildet Ende die Wirklichkeit ab und spricht gesellschaftliche Probleme an. Gleichzeitig erschafft er mit Phantásien ein einzigartiges fiktionales Universum, das als Metapher für unsere Welt fungiert: Das Nichts, die Kreativitätsdiskussion, die Kritik an Herrschaftsstrukturen – all das sind Themen von bleibender Relevanz. Hinzu kommt, dass das Buch 1979 erschien und auch 2024 uneingeschränkt lesbar ist. Es stellt zentrale menschliche Themen zur Diskussion und unterhält Jugendliche wie Erwachsene gleichermaßen.
  2. Ein Meilenstein für die deutsche Phantastik: Ohne diesen Roman wäre z. B. Wolfgang Hohlbeins Märchenmondkaum denkbar, da Hohlbein geschickt Aufbauelemente und Motive von Ende übernimmt. In direkter Folge wurde Hohlbein zu einer prägenden Figur der deutschen Phantastik. Ähnliches lässt sich über andere Autoren in diesem Genre sagen, die wiederum andere Kulturschaffende beeinflusst haben. Ohne Michael Ende sähe die deutsche Phantastik heute völlig anders aus.
  3. Einfluss auf die Popkultur: Von Die unendliche Geschichte wurden weltweit mehr als 40 Millionen Exemplare in über 40 Sprachen veröffentlicht. Dazu kommen drei Spielfilme, zwei Serien und diverse Spin-offs. Der Roman hat auch international seine Wirkung entfaltet und begeistert Menschen weit über das Medium Buch hinaus.

Ich bin sicher, dass Michael Ende in naher Zukunft die Würdigung erfahren wird, die ihm gebührt. Leider kann er selbst das nicht mehr erleben, da er längst verstorben ist. Sein Werk jedoch lebt weiter, und er wird auch weiterhin gelesen.

Hast du Die unendliche Geschichte auch gelesen? Welches Werk von Michael Ende ist dir am meisten im Gedächtnis geblieben?